Die Befähigung jedes einzelnen Menschen in einem Unternehmen selbstbestimmte und informierte Entscheidungen zu treffen, hängt unmittelbar vom Zugang zu Informationen über ebendieses Unternehmen ab.
Eine zentrale Information ist das Thema der Unternehmensfinanzen. Wie viel erwirtschaftet das Unternehmen, wie sehen die Kostenstrukturen aus und was bleibt letztlich am Ende des Jahres an Geld übrig? Ohne einen konkreten und kontextualisierten Einblick für alle Mitarbeitenden in diese Aspekte des Unternehmens, fehlt der entscheidende Baustein, der unternehmerisches und eigenverantwortliches Denken überhaupt erst möglich macht.
Die Herausforderung der Transparenz
Der einfachste Weg, diese Zahlen für alle im Unternehmen zugänglich zu machen, wäre die Veröffentlichung der monatlichen Betriebswirtschaftlichen Auswertung (BWA), welche das Steuerbüro oder die Finanzabteilung erstellt. Im wortwörtlichen Sinne ist damit Transparenz über die wirtschaftliche Situation des Unternehmens geschaffen.
Gleichzeitig ist eine monatliche BWA ein plakatives Beispiel dafür, wie Informationen ohne Kontext oder Unterstützung bei deren Interpretation, keine wirkliche Transparenz schaffen. Die meiste Zeit meines Lebens konnte ich mit einer BWA, auch in meinen ersten Jahren als freiberuflicher Berater, absolut nichts anfangen. Mich hat aus meinem Steuerbüro eigentlich nur interessiert: Wie viel Geld zahle ich nach Ende des Jahres an Steuern ans Finanzamt und wie viel von dem Geld, das jetzt gerade auf meinem Konto liegt, darf ich dieses Jahr noch ausgeben? Das waren die beiden Metriken, die für mein Leben als Freiberufler Relevanz hatten. EBITDA, Abschreibungen und Fremdkosten waren mir als finanztechnische und steuerrechtliche Begriffe zwar bekannt, aber vollkommen bedeutungslos für die tagtägliche Gestaltung meines Lebens und meiner Kaufentscheidungen.
Ähnlich verhält es sich aus meiner Sicht auch mit den Zahlen eines größeren Unternehmens. In ihrer reinen und ursprünglichen Form, also als BWA und Jahresabschluss, schaffen sie Transparenz für einen kleinen Teil von Fachleuten, die diese komplizierten Dokumente interpretieren können. Für die allermeisten Menschen, ohne Fachausbildung im Finanzwesen, sind diese Zahlen jedoch bestenfalls irrelevant und unverständlich und im schlimmsten Fall stiften diese Verwirrung und Unsicherheit. Zur letzteren Gruppe zähle ich auch mich selbst.
Kontext ist alles
Aus meiner Sicht ist der Schlüssel zu echter Transparenz der Kontext, den man den Zahlen gibt. Nehmen wir ein plakatives Beispiel: 100.000 EUR Monatsumsatz klingen fantastisch. Setzt man sie in den Kontext von 120.000 EUR laufender monatlicher Gehaltskosten, klingt dieser Umsatz gar nicht mehr so fantastisch.
Von Anfang an war mir klar, dass ich die Geschäftszahlen meiner Firmen monatlich mit den Belegschaften teilen möchte – wie eingangs erwähnt, ist die finanzielle Transparenz eine tragende Säule der Autonomie jedes Einzelnen. Daraus ergibt sich ganz konkret die Herausforderung: Welche Zahlen teilt man am besten und welche haben lebensnahe Relevanz für die Belegschaft? Wie bereite ich die Zahlen auf, sodass sie Kontext erhalten und für uns alle, die nun mal keine Fachleute sind, nachvollziehbar erscheinen?
Die konkreten Zahlen
Nach einigen Gesprächen mit der Belegschaft entschieden wir uns dazu, mit den folgenden Zahlen zu starten, unterteilt in die Kategorien: Buchhaltung, Liquidität und Realität
Aus der Buchhaltung: Erlöse gegenüber Kosten
Diese Zahlen sind für die meisten von uns im Grunde schon bekannt. Die Erlöse des Unternehmens umfassen alle Einnahmen, die durch unserer Arbeit entstehen. Also jede Rechnung, die wir schreiben, landet in den Erlösen.
Demgegenüber stehen die Kosten, unterteilt nach: Personalkosten, Fremdkosten und Sonstige betriebliche Aufwendungen. Die Personalkosten umschließen alle Kosten, die direkt mit den im Unternehmen arbeitenden Menschen assoziiert sind. Also vornehmlich Gehälter und die zugehörige Sozialversicherung. Die Fremdkosten entstehen durch Freelancer, die zur Erbringung der Erlösarbeit nötig sind. Einfach gesagt sind dies Kosten, die wegfielen, hätten wir keine Erlöse mehr. Denn würde die Arbeit beim Kunden eingestellt werden, hätten die Freelancer keine fakturierbaren Stunden mehr und bekämen somit auch kein Geld mehr. Abschließend gibt es die Sonstigen betriebliche Aufwendungen, welche alle weiteren Kosten des Unternehmens subsumieren – vom Leasing eines MacBooks über Fortbildungen bis zu Reisekosten.
Eine Gegenüberstellung von monatlichen Erlösen und Kosten schafft einen schnellen Blick auf die Entwicklung des Unternehmens, allerdings lediglich aus der Perspektive der Buchhaltung. Was die Konsequenz dieser Einschränkung ist, dazu kommen wir gleich.
Aus der Buchhaltung: Kumulierter EBITDA
Die zweite spannende Zahl, die sich direkt aus Erlösen und Kosten ableitet, ist das EBITDA. Die Abkürzung steht für „Earnings before interest, tax, depreciation and amortization“, was so viel bedeutet wie: “Betriebsergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen auf Sachanlagen und immaterielle Vermögensgegenstände.”.
Umgangssprachlich kann man sagen: EBITDA ist der zu versteuernde Gewinn des Unternehmens, also alle Erlöse abzüglich aller Kosten. Das, was übrig bleibt. Dieses EBITDA schauen wir uns monatlich aufgeschlüsselt an. Allerdings kumuliert. Das bedeutet, dass wir das EBITDA jeden Monats addieren. Das kann man sich einfach vorstellen: Mache ich im Januar 10.000 EUR Gewinn (EBITDA von 10k), im Februar 20.000 EUR Gewinn (EBITDA von 20k) und im März einen Verlust von 5.000 EUR (EBITDA von -5k), dann hat mein Unternehmen in Summe bis März 10.000 EUR + 20.000 EUR - 5.000 EUR also 25.000 EUR Gewinn gemacht.
Da das EBITDA direkt aus den Erlösen und Kosten abgeleitet ist, drückt auch diese Kennzahl lediglich eine buchhalterische Perspektive auf das Unternehmen und dessen Profitabilität aus.
Aus der Liquidität: Net Cash
Das Spannende an buchhalterischen Kennzahlen ist, dass sie den tatsächlichen Fluss von Geld, also die Liquidität, im Unternehmen nicht berücksichtigen. Die Buchhaltung schaut auf Ein- und Ausgangsbelege und verbucht diese anhand von Beleg- oder Leistungsdatum, welches auf den Dokumenten zu finden ist.
Stelle ich also im März zwei Rechnungen in Höhe von jeweils 5.000 EUR und kaufe im März einen Computer im Wert von 2.500 EUR, dann habe ich aus Sicht der Buchhaltung einen Erlös von 10.000 EUR und Kosten in Höhe von 2.500 EUR. Damit ist der Gewinn dieses Monats 7.500 EUR. In der Liquiditätsbetrachtung sieht das allerdings ganz anders aus. Haben die beiden gestellten Rechnungen ein Zahlungsziel von 30 Tagen, werden wir im März noch kein Geld sehen, da die Rechnungen erst in dreißig Tagen beglichen werden. Der Computer ist aber schon bezahlt. Damit habe ich aus Sicht der Liquidität im März -2.500 EUR erwirtschaftet, obwohl die buchhalterische Bilanz positiv war. Das veranschaulicht die Problematik einigermaßen gut.
Genau hier setzt das Net Cash an. Die Kennzahl versucht, den buchhalterischen Gewinn einer Periode in einen konkreten Geldbetrag zu überführen, der dem Unternehmen zur Verfügung steht. Dazu wird der tatsächliche Kontostand zum Ende des Monats genommen, darauf werden alle offenen Erlöse sowie ausstehenden Vorsteuererstattungen addiert und dann werden davon wiederum alle offenen Rechnungen sowie die noch zu zahlende Umsatzsteuer abgezogen.
Nehmen wir im obigen Beispiel einen Kontostand Ende März von 8000 EUR an. Der Net Cash in dem Fall wäre dann: 8.000 EUR zuzüglich 10.000 EUR offener Rechnungen. Also 18.000 EUR Net Cash, mit denen das Unternehmen arbeiten könnte.
Aus der Realität: Runway
Nun haben wir die Kennzahlen aus der Buchhaltung durch Rechnerei in eine Kennzahl aus der Liquiditätsbetrachtung überführt. Damit ergibt sich zwar eine konkrete Zahl, trotzdem fehlt immer noch ein greifbarer Realitätsbezug. Was bedeutet es, dass ein Unternehmen 50.000 EUR Net Cash im April zur Verfügung hatte? Ohne dieses wiederum neben monatliche Kosten zu halten, bedeutet es reichlich wenig.
Und genau das tun wir mit dem Runway. Wir kontextualisieren die Zahlen aus Buchhaltung und Liquidität und erzeugen daraus eine Kennzahl, der ein Mensch aus dem Unternehmen ganz ohne betrieblichen Hintergrund eine emotionale Bedeutung zusprechen kann.
Der Runway drückt aus, wie lang unser Unternehmen seine Existenz fortsetzen könnte, wenn die Rechnungsstellung aufhören würde – zum Beispiel, weil alle Kunden die Zusammenarbeit beenden.
Dazu teilen wir das Net Cash des letzten ermittelten Monats durch die laufenden Kosten (nur Personalkosten des Vormonats und durchschnittliche sonstige betriebliche Aufwendungen). Daraus ergibt sich eine Anzahl an Monaten, die wir sicher den Betrieb des Unternehmens fortsetzen können, selbst wenn auf einen Schlag alle Kunden wegbrechen.
Beträgt also beispielhaft das Net Cash im März 20.000 EUR und kostet der Betrieb des Unternehmens inkl. Gehälter im Monat 10.000 EUR, dann sprechen wir von einem Runway von exakt 2 Monaten.
Zusammenfassung
Jeden Monat stelle ich also in einer schön aufbereiteten Slideshow Erlöse, Kosten, EBITDA, Net Cash und Runway vor, aufgeschlüsselt nach den zurückliegenden Monaten des Jahres in übersichtlichen Diagrammen.
Aus vielen Diskussionen und Gesprächen in der Belegschaft von space22 weiß ich, dass die Sicherheit des Gehaltes und des Arbeitsplatzes eine wichtige Rolle in diesem Unternehmen spielt. Daher ist für uns eine monatliche Betrachtung von Runway als Resultat aus dem Net Cash ein Kontext, den wir alle verstehen und wertschätzen können.
An den Reaktionen und den Rückfragen erkenne ich auch, dass diese kontextualisierten Zahlen auf ehrliches Interesse stoßen und damit zu Debatten führen. Etwas, das die Präsentation des buchhalterischen EBITDA allein niemals erreichen würde.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die meisten Menschen in einem Unternehmen an dessen wirtschaftlicher Entwicklung interessiert sind, nicht zuletzt, weil sie alle aktiv dazu beitragen und direkt davon betroffen sind. Gemeinsam herauszufinden, welche Wünsche und Ängste im eigenen Unternehmen zu diesen Themen vorherrschen, ist der erste Schritt zu echten Kennzahlen, die eine Bedeutung für jeden Einzelnen haben.
Ganz interessiert bin ich an Deinen Kontexten: Welche Erwartungen hättest Du an transparente Finanzen und gibt es Kennzahlen, die Du in Deiner eigenen Firma gerne regelmäßig sehen wolltest?
Stay Mindful
Jakob